Miteinander entscheiden

von Marcus Weiand, im Juni 2023 (erstmals erschienen im Bienenberg Magazin, Juni 2023)

Chancen und Risiken

Die Krönung von König Charles III ist jetzt ein paar Wochen her. Mich erinnerte die Zeremonie daran, wie Könige und Königinnen zu früheren Zeiten herrschten: Alleine, mit absoluter Macht. Gut, es gab dann noch die Ehepartner und wichtige Berater, die von Zeit zu Zeit massgeblichen Einfluss hatten. Zumindest in Europa gab es auch immer wieder Gerangel mit der Kirche, wer denn der Grösste im Staat sei.

In der Bibel lesen wir von Mose und den Richtern, die dem Volk Israel vorstanden. Dann kam der Wunsch nach einem König auf – alle anderen hatten auch einen König, der alles entschied und zu dem man aufblicken konnte.

Immer wieder in der Geschichte und in jüngerer Vergangenheit kam auch in unseren Breiten der Wunsch nach starken Führungspersonen auf: «Sie sollen den Laden mal in Ordnung bringen.» Das Aushandeln verschiedener Positionen ist zu mühsam. Immer wieder muss man Kompromisse eingehen. Einfache Zuständigkeiten und auch klare Antworten entlasten die Psyche.

In der Kirche gibt es sehr unterschiedliche Modelle, wie entschieden wird: die römisch-katholische Kirche als Papstkirche, demgegenüber viele Freikirchen, in denen eine Gemeinde gemeinsam entscheidet. Darüber hinaus gibt es noch alle möglichen Schattierungen. In täuferischer Tradition wird das «Priestertum aller Glaubenden» (1. Petr. 2,9) betont, in der jede und jeder gehört werden muss – es sind ja alles «Priesterkolleg:innen». Dass Frauen, übrigens, gleichrangig dazu gehören, war lange Zeit umstritten und ist es in manchen Gemeinden noch bis heute.

Entscheidungsformen

Entscheidungsformen in Gemeinden, bei denen alle mitreden, sind in der Tat anstrengender und oft kommt man langsam voran. Auf der anderen Seite würdigen sie nachdrücklich die Tatsache, dass Gott seinen Geist seinen Jüngerinnen und Jüngern gegeben hat und sie mit Fähigkeiten und Gaben ausgestattet hat, um das Reich Gottes zu fördern. Das bedeutet, dass die Erkenntnisse der Einzelnen wichtig sind. Das fördert wiederum die Identifikation mit den Entscheidungen (ownership).

Das Top-Down-Leitungssystem muss dagegen damit kämpfen, dass Top-Leitungspersonen eher selten sind. Zudem sind selbst starke Leitungspersonen nicht immer schnell. Es kann zu Flaschenhals-Effekten kommen, aber auch zu Überlastungen und Ausfällen. Alleinentscheidende sind nicht zwangsläufig immer klar in ihrem Vorgehen; auch sie haben blinde Flecken, die möglicherweise nicht angegangen werden oder sie führen dazu, dass Bereiche unklar bleiben. Und nicht zuletzt ist der Übergang, die Ablösung, oft mit Schwierigkeiten verbunden und kann eine Gemeinde in existenzielle Krisen bringen.

Wie kann man aber gemeinschaftliche Entscheidungsprozesse gestalten, ohne dass es zum Stillstand kommt? Ohne dass es ein Chaos gibt, weil alle zu Recht den Anspruch erheben, mit Gott im Gespräch zu sein, also Gottes Reden zu hören? Das ist anspruchsvoll und es ist verständlich, dass man sich nach starken Leitungspersonen sehnt, die klar den Weg vorgeben und von Gott die richtigen Anweisungen bekommen.

Ich bin überzeugt, dass es sich lohnt, diesem Impuls nicht nachzugeben. Wir sehen in Apostelgeschichte 15 ein Beispiel für einen Entscheidungsprozess, in denen die wichtigen Leitungspersonen, die Apostel, die Gemeinde zusammenriefen, um zentrale Entscheidungen zu treffen. Die Apostel liessen sich auf einen gemeinsamen Prozess ein und waren gerade darin wichtige Führungspersonen. In Anlehnung an das sogenannte Apostelkonzil aus Apg. 15 und anderen Stellen aus der Bibel, wurden im Laufe der Zeit immer wieder Modelle entwickelt, um einen geistlichen Entscheidungsprozess zu gestalten.

Wie könnte heute so ein Entscheidungsprozess aussehen?

In unserem Bienenberg-Kurs «Miteinander entscheiden» haben wir einen Ablauf zusammengestellt, der durch einen gemeinschaftlichen Entscheidungsprozess führen kann. Hier ein Überblick über die zentralen Schritte:

  • Die Grundausrichtung beschreiben: Gottes Willen für die Entscheidung suchen

  • Zielfrage, Verantwortung und Ablauf klären: Was soll am Ende geschehen sein? Wer hat welche Rolle? Wie sieht der zeitliche Ablauf aus?

  • Kriterien entwickeln, wie eine Lösungsoption aussehen sollte und welche Einschränkungen es gibt

  • Geistliche Ausrichtung: bereit sein, auf Gott Reden und andere hören, biblische Parallelen suchen

  • Optionen erarbeiten, Optionen eingrenzen

  • Entscheidungen treffen und umsetzen

Ein Entscheidungsprozess, der sorgfältig und transparent durchgeführt wird, bewahrt davor, dass am Ende doch nur die durchsetzungstarken Personen die Richtung vorgeben. Stattdessen wird sichergestellt, dass alle sich beteiligen können, eine grosse Vielfalt an Perspektiven sichtbar wird und trotzdem der Entscheidungsprozess vorangeht. Eine Gefahr ist sicher, dass man sich in Gesprächen verzettelt und alle zu Allem etwas sagen wollen (ganz nach Karl Valentin: «Es ist schon alles gesagt, nur noch nicht von jedem.»). Hier wird es wichtig sein, dass jede einzelne beteiligte Person die Gemeinschaft nicht aus dem Auge verliert und sich selbst nicht als die wichtigste Stimme sieht, so dass durch die Hintertür doch wieder ein absolutistisches Denken einzieht: «Meine Meinung muss sich unbedingt durchsetzen.»

Der Gewinn einer gemeinschaftlichen Entscheidung, ist, dass eine Gemeinde lernt, Verantwortung zu übernehmen und gleichzeitig Demut zu lernen, dass die eigene Meinung nicht unbedingt der Weisheit letzter Schluss ist. So unterwegs zu sein, kann richtig Spass machen.

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